
Ein Beitrag von Julian Lorenz
„Wien kann sich erneut als Lebenswerteste Stadt der Welt behaupten.“ Schon wieder liest Franz diesen Satz in der Zeitung. Dabei fällt es ihm aus seiner Perspektive schwer, das zu glauben. Für jemanden wie ihn präsentiert sich Wien stets von seiner dunklen, gefährlichen und verschmutzten Seite. Franz ist nämlich seit mittlerweile knapp über einem Monat ohne Obdach, und seit circa einem Jahr zuvor bereits ohne eigene Wohnung.
Dabei hatte er noch Glück im Unglück; nach dem Verlust seiner eigenen Wohnung, konnte fast immer bei Verwandten und Freunden unterkommen, und hatte nahezu jede Nacht einen gesicherten Schlafplatz. Seit einigen Monaten ist das, auch wegen seines teils exzessiven Alkoholkonsums, immer unregelmäßiger möglich, und seit circa einen Monat ist Franz schließlich Obdachlos. Seitdem spielt sich sein Leben fast komplett auf der Straße ab, was für einen Mann wie ihn, der seine besten Jahre bereits hinter sich hat, nicht nur unwürdig, sondern auch sehr herausfordernd ist.

Doch wie ist es überhaupt möglich in so eine prekäre Lage zu gelangen? Darauf angesprochen versuchte er das Thema zu wechseln, da er über diese Ereignisse nicht gerne ein Wort verliert. Bleibt man dran, und versucht etwas über seine Vergangenheit zu erfahren, kommen nach und nach zumindest Bruchstücke seiner Geschichte hoch.
Angefangen scheint alles mit der Trennung seiner langjährigen Ehefrau zu haben. Das ist mittlerweile gut zwei Jahre her, doch man merkt ihm an, dass er es immer noch nicht verarbeitet hat. Dieses Ereignis hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die sich seitdem unaufhörlich weiterdreht. Es folgten eine Alkoholsucht, kurz darauf die Kündigung und schließlich der Verlust der Wohnung.
Eigentlich war Franz lange Zeit zu stolz, zu bequem, und seine Scham zu groß, um dauerhaft in ein Heim einzuziehen. Bisher haben ihm Einrichtungen wie das Notquartier der Gruft, oder Tageszentren dabei geholfen über die Runden zu kommen. Er hatte aber noch nie einen dauerhaften Wohnplatz in einem städtischen Heim. Mit herannahendem Winter wird es auf der Straße allerdings zunehmend lebensfeindlicher, und er sieht keine andere Möglichkeit, als über seinen Schatten zu springen.

Also wandte er sich an die Wiener Wohnungslosenhilfe, und wurde prompt einem Wohnheim der Caritas zugeteilt. Noch am selben Tag stellte er sich bei dem Betreuer des Hauses vor, und nach dem Ausfüllen diverser Formulare konnte er sogar schon in sein eigenes Zimmer einziehen. Das war nun seit mehr als einem Jahr sein eigenes Zimmer mit zumindest einem Mindestmaß an Privatsphäre.

Endlich war er wieder in der Lage unter menschenwürdigen Umständen zu leben, und in
eine tägliche Routine zu kommen. Die Sozialarbeiter und Wohnbetreuer der Einrichtung haben ihm dabei geholfen Amtswege und sonstige Besorgungen zu erledigen, und bald wurde auch seit langer Zeit erstmals wieder seine Post direkt an ihn, in sein neues Zuhause zugestellt.
Damit war die Grundlage für einen Neubeginn geschaffen. Allerdings erkannte Franz auch, dass ihn seine Alkoholabhängigkeit immer noch beherrscht. Zwar hat sich sein Konsumverhalten in seinem neuen Umfeld verbessert, jedoch trank er immer noch täglich.
Die Sozialarbeiter sahen in ihm Potenzial zur Besserung, und machten sich dafür stark, ihn so schnell wie möglich einen Alkoholentzug zu ermöglichen. Nach mehreren Gesprächen mit einem Psychologen, war er schließlich auch bereit dazu. Damit war das letzte große Hindernis beiseite geräumt, und das Aufhören rückte in greifbare Nähe.
Wenige Wochen später war es schließlich so weit. Franz packte das Notwendigste zusammen, wurde von einem Krankentransport abgeholt, und in eine Entzugsklinik gebracht. Der Weg führt sie in den Westen Wiens, ins Otto-Wagner-Spital. Dort angekommen staunte er nicht schlecht über den beeindruckenden Ausblick über die Stadt, und hielt nochmal kurz inne bevor er die Klinik betrat, und sein altes Leben endgültig hinter sich ließ. Er dachte an all das Leid der letzten Jahre, und wie froh er darüber war, dass nun Endlich ein Ende in Sicht ist. Er dachte aber auch an alle, die ihn auf seinem Weg unterstützt haben. An Alle, die ihm Obdach geboten haben, als er sprichwörtlich am Boden lag. Er musste auch an seine Zeit in der Gruft denken, und wie dankbar er dem Personal und den Freiwilligen dort ist. Ohne sie wäre er jetzt vielleicht gar nicht mehr am Leben. „Jetzt verstehe ich, was Wien so lebenswert macht“, murmelte er nachdenklich, bevor er schlussendlich im Türrahmen des Gebäudes verschwand.

Über den Author & die Geschichte: Julian Lorenz ist 22 Jahre alt und war als engagierter Zivildiener im Jahr 2019, im Bereich der Obdachlosenhilfe in Wien, tätig.
Die in seiner Geschichte beschriebene Person “Franz” ist fiktiv, die beschriebenen Ereignisse beruhen allerdings auf realen Begebenheiten von Personen, die Julian in seiner Zeit als Zivildiener kennengelernt hat.